Ich kannte Ruby nicht gut, aber eines war mir von Anfang an klar: Sie war eine dieser inspirierenden Frauen, einfach eine Überlebenskünstlerin. Als ich sie das erste Mal traf war Paris von Sonne überflutet. Es war Feierabendzeit, Menschen drängten wie Ameisen in die Metro und tummelten sich auf den Straßen.
An schönen Tagen zu dieser Zeit, war das Seine-Ufer bereits bevölkert mit Menschen. Meine Schritte führten mich zur Pont Neuf, auf die kleine Halbinsel hinter Alexandre dem Großen, der auf seinem Pferd thronend die Brücke sehr pompös erscheinen ließ. Ich sehe Menschen, die ihre Beine über dem Wasser baumeln lassen und lachen, Menschen, die Bier trinken und angeregt diskutieren.
„Das ist Paris!“ denke ich mir und lasse meinen Blick schweifen, bis ich sie sah.
Klein, rund und blond saß sie da mit einer Ukulele und ihrer Engels-Whisky-Stimme, mir wohlbekannte Klänge erzeugend. Sie faszinierte mich. „Hast du mal nen Filter?“ fragte sie mich kurzerhand und riss mich dadurch unsanft aus meinen Gedanken. Ich kramte in meiner Tasche und drückte ihr eine Zigarette in die Hand.
Sie bedankte sich mit ihrem australischen „Amazing“, bevor sie sich die Kippe ansteckte. Woher ich komme, wollte sie als nächstes wissen. Deutschland. „Setz dich doch, ich bin übrigens Ruby. Nice to meet you.“ Sie grinste, ich nahm neben ihr Platz und ließ die Beine die Mauer herab baumeln. Ruby spielte wieder und kniff die Augen zusammen, denn die Sonne schien ihr direkt ins Gesicht. Ich hielt ihr meine Sonnenbrille hin, die sie dankend aufsetzte. „When I’m cleanin‘ windows“ singt sie und verzieht dabei lustig ihr Gesicht. Ich fühle mich schlagartig wohl, der Feierabendtrubel scheint vergessen und wieder denke ich: „Das ist Paris!“ Fast schon idyllisch erscheint mir dieser Abend, als eine kleine Entenfamilie unter unseren Füßen entlang schwimmt.
Ruby hat einen Freund erzählt sie. Den Schweden. Er ist der Grund, der sie nach Paris verschlug. Sie lernten sich in Australien kennen, während er sich eine Auszeit vom Job und allem nahm. Nach seiner Rückkehr lagen ein paar Monate lang ein riesiger Ozean und tausende Kilometer zwischen ihnen, bis Ruby, von ihrer Reiselust gepackt, nach Frankreich kam.
Und hier sitzt sie nun, in einer Stadt, in der sie weder die billigen Anmachsprüche auf der Straße, noch die Bedienung im Restaurant versteht. Sie macht das Beste daraus, plappert munter von „Montma’“, wo der Schwede wohnt und erzählt von ihrer Reise nach Berlin, die sie bald antreten wird. Oh ja, Ruby und Berlin, wenn das nichts ist, denke ich mir.
Und dann war Ruby erst mal weg. Um genau zu sein einen ganzen Monat lang. Die modernen Kommunikationsmittel dieser Zeit, machten es uns Zurückgebliebenen möglich ihre Reise digital mitzuverfolgen. Fotos aus besetzten Häusern, Skateparks, Berliner Dachterassen – das alles teilte sie mit uns. Und auch mit dem Schweden, der in Paris hinterm Schreibtisch saß und sich tagtäglich fragte, was Ruby wohl jetzt machte, ob es ihr gut ging und warum sie nicht anrief. Ein Monat verging mit nur spärlichem Kontakt. Er litt sehr darunter, mehr als er zugeben wollte. Die Zurückgebliebenen leiden prinzipiell mehr, als der Fortgegangene, denn auf ihn warten jeden Tag frische Erlebnisse und neue Gesichter. Er konnte nichts anderes tun als warten und hoffen. Oft fühlte er sich wie einer der Pariser Hunde, festgebunden vorm Supermarkt, schwanzwedelnd darauf wartend, dass sein Frauchen wiederkommt. Der einzige Gedanke, der ihn beruhigte war, dass Ruby mit ihm sesshaft werden würde im kommenden Jahr. Hier in Paris. Sie hatten bereits alles besprochen, solang musste er einfach noch durchhalten.
Ruby litt im Gegensatz zu ihm nicht. Sie war Feuer und Flamme für Berlin. Sie erzählte mir vom besetzten Haus mit dem Gemüsegarten auf dem Dach, dem alten Kino, welches Skater zum Wohnhaus umgebaut hatten, von der Schaukel im Wohnzimmer und all dem „amazing“ Rest.
Sie liebte das Gefühl der puren Freiheit. Sie liebte die Menschen, die ihr alle viel offener erschienen, als all die Chaneltussis und Anzugträgerpinguine in Paris.
Ihre Liebe zum deutschen Hipster-Berlin rief gleichzeitig einen Hass auf die französische Metropole hervor. Ruby schwärmte von Berlin und wetterte gegen Paris. „I will leave Paris for good!“ sagte sie mit nickendem Kopf, als müsste sie sich erst selbst noch überzeugen, dass es die richtige Entscheidung war. Doch was war mit dem Schweden? Sie sah mich mit ihren blauen Augen an, die sonst immer so strahlten wie kleine Sonnen. Damals erschienen sie kalt und müde.
„I love him, but what should I do?“ Ihre Lebensentwürfe passten nicht zusammen. Er will in Paris leben und sesshaft sein – sie will reisen, rumkommen und Abenteuer.
Er würde bis ans Ende der Welt für sie ziehen, egal wohin, hatte er ihr versichert. Doch Ruby wollte nicht, dass er sein geliebtes Pariser Leben für sie aufgab, denn sie würde ihren Traum vom Reisen auch nicht aufgeben. Sie stand bei sich an erster Stelle. Sie wusste, wenn sie nicht glücklich war, könnte sie niemand anderen glücklich machen.
Ruby hatte einen Kloß im Hals, als sie mir das erzählte. Bevor sie den Schweden endgültig verließ lagen sich die beiden lange in den Armen und weinten gemeinsam. Sie vergossen jede einzelne Träne aus Verzweiflung darüber, dass das Timing so schlecht war, die Lebensvorstellungen noch nicht passten und sie deshalb vorerst getrennte Wege gehen würden. Ruby wollte erst mal zurück nach Australien. Der Schwede würde seine Tage weiterhin hinter dem Schreibtisch verbringen und sich jeden Tag fragen, wo sie wohl jetzt genau war.
Als Ruby auf die Tür zuschritt, blickte sie nicht zurück. Sie ging mit einem „I love you so much!“ auf den Lippen, doch sie sah sich nicht um.
Das letzte Mal, als ich Ruby sah, erzählte sie mir von ihrem Tagebuch in dem sie geblättert hatte.
„I will never forget the day, the Swede tried to fart on me!“ sagte sie und grinste mich an.
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