Goethes Goldlöffel

Sie sitzt neben mir auf der Parkbank, Weißweinschorle in Plastikbechern und Zigarettenstummel zwischen ihren rot lackierten Fingerspitzen. Sie sagt: „Ich glaube, dass alle großen Schriftsteller in Menschen unserer Generation wiedergeboren werden.“ Ich schaute sie an und dachte darüber nach während der Mond über unseren Köpfen zu wandern begann. Wenn sie Recht hat, dann hab ich letzte Nacht mit Goethe geschlafen.

Er stand da, hinter uns und versuchte seinen Freund zu einer Zigarette zu überreden: „Rauch eine! Lungenkrebs ist besser als Herzschmerz – dein Herzschmerz bringt uns alle um den Verstand“.
Sie sagte dann in ihrer mystischen Art, die ich so liebe: „Ich glaube, dass ein Stück der Aura der Menschen mit denen wir Sex haben auf uns übergeht.“
Nach der Nacht mit ihm ging ich nach Hause und mein Fernseher niemals wieder an.

Dieser Mann – in dieser Nacht – er spannte mit seinen Worten ein Netz, in dem ich mich verlor, das mich festhält und nicht mehr loslässt. Ich wachte auf in diesem Netz – umgeben von Büchern, Instrumenten,Kunst und Worten. Sie waren überall, sie hingen von der Decke, standen an der Wand, schwirrten durch den Raum und vernebelten mir den schmerzenden Kopf, in dem die Ibuprofen mit den Eindrücken der letzten Nacht kämpfte. Er machte Frühstück. Meerrettich so scharf wie unsere Blicke. Brot mit einer Kruste so hart wie sein Schwanz. Rote Beete so dunkel wie die Farbe meiner Lippen. Durchblutet, Farbreste – die von seinem Körper den Rest des Tages umhergetragen wurden wie ein Kunstwerk, gemalt aus Leidenschaft.

Es ist nicht was er sagte, es ist wie er es sagt: Worte für Emotionen, die er nicht mehr zu fühlen scheint. Er konstruiert ein Gebilde aus Worten, denen ich glauben will. Worte, die der Beweis dafür sind, dass aus Schmerz etwas Gutes entsteht.
Worte so stark wie der Kaffee. Worte so bitter wie der Tabak. Worte so schön wie der Goldlöffel. Seine Schönheit erzählt Geschichten aus vergangenen Zeiten. Der wunderschöne Goldlöffel, dessen Gold unter seiner angekratzten Oberfläche immer noch zu glänzen scheint.

Kaum sichtbar – für das Auge nicht greifbar – aber da.