Du sitzt vor mir. Unsere Gespräche überschlagen sich, da wir so viel sagen wollen und wissen, der Abend wird zu Ende gehen. Wir springen von Thema zu Thema und verlieren uns. Ich erfriere auf der Bordsteinkante, auf der wir seit drei Stunden sitzen, doch es ist mir egal. Ich habe das Gefühl, ich muss dir alles in dieser Nacht sagen, da sich das Tor schließen könnte, unser Gespräch vorbei geht und ich wieder auf diesen einen Moment warten muss, in dem mir jemand wie du begegnet.
Was hat es auf sich mit diesen Begegnungen? Ich habe das Gefühl über meiner Brust sitzt ein drittes Auge. Dieses Auge ist offen für all die Empfindungen dieses Welt. Es gibt Tage, da kann ich die Trauer der Frau mir gegenüber im Bus nicht ertragen. Sie sagt nichts und doch sehe ich es. An ihren schweren Augen und an der negativen Energie, die auf ihr liegt wie ein schwerer grauer Schleier, der von oben drückt.
Ist es Zufall oder Schicksal?
Jede kleinste Veränderung der Empfindung der Menschen vor mir kann ich fühlen. Ich sage was, du zuckst, nicht merkbar für andere, aber für mich spürbar und ich ziehe mich zurück in der Sorge, mein drittes Auge könnte sich schließen. Die Armee der Dreiäugigen. So kommt es mir manchmal vor. Weniger eine Armee als eine Minderheit von Menschen, die die Fähigkeit besitzen andere Menschen zu fühlen, wirklich zu fühlen. Eine Minderheit von Menschen, die die Empathie besitzen Dinge wahrhaftig zu reflektieren, eine Minderheit von Menschen, die bereit sind Fragen zu stellen, die im Volksmund unter Esoterik abgetan werden. Der Volksmund mit fehlender Sensibilität für die wirklich wichtigen Fragen, die sich eben nicht pauschal beantworten lassen.
„Ist es Zufall oder Schicksal, was ist der Sinn des Lebens, wie werde ich glücklich, warum bin ich wer ich bin und was ist wirklich wichtig“ – „puh, hab ich noch nie drüber nachgedacht“. Wie können Menschen darüber nicht nachdenken? Die Erkenntnis, dass viele Menschen über so vieles nicht nachdenken, stürzt mich immer noch regelmäßig in die Krise. Warum bin ich so- frage ich mich dann und mein drittes Auge schließt sich wieder ein kleines Stück.
Das Café am Rande der Welt
Und dann treffe ich dich und weiß, ich bin nicht allein. Es gibt da ein Buch: „Das Café am Rande der Welt“ sagen wir gleichzeitig und ich frage mich am Abend allein in meinem Hotelzimmer, ob das Café am Rande der Welt am Rande der Welt ist, weil es in unserer Gesellschaft keinen Platz dafür gibt. Es würde verdrängt werden. Zu viel Hektik würde einkehren und die Fragen, die es stellt für immer unbeantwortet lassen. Zu viele Menschen würden einkehren, die sich die Fragen nie gestellt haben und durch ihre stumpfe Selbstverständlichkeit dem Hinterfragen den Raum nehmen. Das Café am Rande der Welt steht also ganz gut dort wo es ist, nur kann es eben nicht jeder finden, weil sehen nicht gleich sehen ist.
Ein stiller Kampf, der sich lohnt
Du aber bist anders – du bist nicht blind: Ich will dich anfassen, da deine Energie so schön ist, dass Zuhören und Anschauen nicht reicht. Ich möchte jeden Tag mit dir sprechen, meine Energie mit deiner verbinden und gleichzeitig frage ich mich, ob es mich zerstören würde, da so viel Tiefe nur Abgrund bedeuten kann. Dann überlege ich, ob ich mein drittes Auge für immer zumache und mich der Armee der Blinden anschließe. Endlich einen Weg finde, meine Hochsensibilität stummzustellen und im Strom zu schwimmen. Doch dann treffe ich wieder auf Menschen wie dich. Komme in den Raum und sehe diese eine Person, die so strahlt, dass ich nicht anders kann als mich wieder auf die Treppenstufe zu setzen, auf der ich sicher bin, dass unsere Seelen in einem früheren Leben schon gemeinsam saßen. Wie sonst könnte ich nach einer Sekunde so eine vertraute Wärme spüren.
Genau wegen diesen Begegnungen ertrage ich die Gefühle all jener, die selbst nicht fähig sind so intensiv zu fühlen. Ich gebe jedem Blutsauger einer Stück meiner Energie. Ich ertrage still, um mein Auge geöffnet zu haben für eben diese seltenen Begegnungen. Geöffnet für etwas, für das sich der stille Kampf lohnt: Für eine Welt voller Wunder verborgen in den Menschen, die fähig sind zu fühlen.
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